
Was, wenn das Virus die Medizin wäre?
Von Jonathan Hadas Edwards & Julia Hartsell
Übersetzung: Stephan Pfannschmidt
aktualisiert: 02.04.2020
Die aktuelle Pandemie stellt schon jetzt den Scheideweg des frühen 21. Jahrhunderts dar: Nichts wird mehr sein wie vorher. Doch bei allem Chaos, direkt oder indirekt angerichtet vom Virus, könnte es doch auch Teil der bitteren Medizin sein, die der globale Organismus gerade braucht.
Wie aber sollte eine weitere Krise für unseren ohnehin krisengeschüttelten Planeten wohl Heilkräfte bringen können?
Bevor wir diese Frage beleuchten, möchten wir folgendes klarstellen: es ist keineswegs unsere Absicht, die Tragweite der Krise herunterspielen, oder gar das Leid der Menschen aus dem Blick verlieren, welche durch sie bereits gestorben sind. Hinter den nackten Zahlen steckt realer Schmerz und Trauer. Und hinter diesen Zahlen, oft beiläufig diskutiert, stecken persönliche Schicksale! Sie stehen für den möglichen Verlust unserer Eltern unserer Ältesten und Lehrer*innen, Tanzpartner*innen, unserer Großmütter oder immunschwacher Freund*innen. Schon heute bricht uns die erzwungene physische Distanz zu unseren alternden Eltern das Herz, solange wir nicht wissen, ob wir infiziert sind oder nicht. Zur Zeit besteht die reale Gefahr, geliebte Menschen zu verlieren, und dies noch dazu ohne jegliche Nähe. Auch das einsame Leiden und Sterben ohne einen geliebten Menschen berühren zu dürfen bricht uns das Herz.
Wir ehren den Tod als den letzten heiligen Übergang, aber wir verharmlosen ihn genauso wenig wie Leid oder Krankheit. Wir beten, dass alle, die durch dieses Virus aus dem Leben scheiden (wie auch durch viele andere tödliche Krankheiten, Unfall, Drogentod, Mord, Selbstmord, Massaker u.v.a.) auf der anderen Seite ihres Übergangs auf unverhofften Segen, Verbundenheit und Frieden treffen.
Auch die wirtschaftlichen Folgen dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Viele Menschen in diesem Land [in den USA, Anm. d. Ü.] leiden bereits unter massiven Folgen. Dabei hat die Rezession gerade erst begonnen. Wie immer werden diejenigen, die ohnehin schon prekär am Rand des Existenzminimums leben, am härtesten getroffen. Für Manche kann sich ein Monat der Abgeschiedenheit an einem schönen Ort wie ein Urlaub anfühlen. Andere haben vielleicht ein paar Monate Luft, bevor die finanzielle Panik greift. Und wieder andere, welche von Gehaltszettel zu Gehaltszettel oder von Gig zu Gig leben, werden unmittelbar vom grausamen Überlebenskampf getroffen. Die wirtschaftlichen „Nebeneffekte“ dieses Coronavirus könnten katastrophal sein.
Und dennoch.
Für viele unserer Mitmenschen war die Situation schon vor der Coronakrise katastrophal. Viele sehen das Ende ihrer Welt schon länger kommen - und tatsächlich ist sie für viele Tier- und Pflanzenarten wie auch für viele Menschen bereits untergegangen. Wir sind mitten in einer Krise von ungeheurem Ausmaß: Die Menschheit hat die Wahl zwischen radikaler Änderung oder einem grausamen Sterben. Niemand sagt, dass Änderungen leicht wären (genauso wenig wie Sterben). Und ein allmählicher Wandel reicht nicht mehr aus. Es braucht einen schnellen und umfassenden Kurswechsel weg von der massiven Zerstörung unserer Mitwelt, von Hunger, Energiekrisen, Kriegen, Fluchtmigration, der wachsenden Anzahl autoritärer Regime und der sich immer mehr beschleunigenden ökonomischen Ungleichheit.
Die Welt, wie wir sie kennen, diese Welt, sie stirbt. Was nicht nachhaltig ist, kann schon per Definition nicht mehr weiter existieren. Was das bedeutet, beginnen wir gerade zu sehen.
Welche Hoffnung haben wir also noch? Die Hoffnung ist, dass der Zusammen-Bruch zu einem Durch-Bruch wird, oder zumindest mit ihm koexistieren kann. Es gibt die Hoffnung, dass das, was hier gerade stirbt, die Raupe der unreifen Menschheit ist, und dass die bevorstehende Metamorphose etwas überwältigendes Neues an die Oberfläche treten lässt. Dass das, was auch immer diesen kollektiven Vorgang der Initiation überlebt, wahrer, herzverbundener, widerstandskräftiger und fruchtbarer sein wird.
Wir treten gerade in das Stadium der Verpuppung. Hier gibt es keinen Ablaufplan für die nächsten Schritte. Aber aus der Beobachtung der Natur können wir einige Dinge lernen (Dank an Megan Toben für einige biologische Hintergrundinformationen). Zum Einen geht dem Verpuppungsstadium eine Fressorgie voraus, bei der die Raupe massiv überkonsumiert (klingt vertraut? Wir sind seit Jahrzehnten in diesem Stadium). Anschließend verschmelzen die bestehenden Gewebe zu einem buchstäblich undifferenzierten Matsch. Separat bleiben sogenannte Imago-Zellen, welche sich untereinander verbinden und zur Blaupause dessen werden, was sich aus dem Raupen-Matsch zum Schmetterling re-organisiert. Ist das Überfressen der Raupe nun Strategie, oder blinder Instinkt? Weiß sie, was kommt und vertraut dem Prozess, oder glaubt sie, ihren herannahenden Tod zu spüren? Wir wissen es nicht. Natürlicherweise widersetzen wir uns radikalem, schmerzhaften Wandel. Am Ende gibt es kaum eine andere Wahl, als sich ihm zu unterwerfen. Wir können uns aber darin üben, die Umstände zu begrüßen. Umstände, die uns von den nicht mehr funktionierenden alten Mustern wirtschaftlicher oder persönlicher Art befreien. Diese Möglichkeit haben wir genau jetzt.
Betrachten wir einmal das Schlüsselwort in diesem Prozess: Initiation. Auf persönlicher Ebene sind Initiationen jene Prozesse oder Rituale, durch welche wir einen neuen Daseinszustand mit dem entsprechenden sozialen Status erreichen: vom Mädchen zur Frau, vom Laien zum Geistlichen, usw.
Initiationen können freiwillig oder spontan stattfinden, wie bei der schamanischen Initiation, die sich durch eine heilende Krise anbahnt. Um Michael Meade zu zitieren: „Initiationen sind Ereignisse, welche uns tiefer ins Leben hineinziehen, als wir ohne sie gegangen wären“. Es gibt starke kulturelle und individuelle Unterschiede, aber zwei Eigenschaften, die sie stets enthalten, sind Intensität und Transformation. Sie bringen uns von Angesicht zu Angesicht mit Leben und Tod; es gibt immer ein Element des Sterbens oder des Sich-Häutens, damit das Neue geboren werden kann.
Die Meisten von uns haben bereits Initiationen der einen oder anderen Art durchlebt, vom Tod eines Elternteils bis zur Geburt eines Kindes. Viele haben Initiation in Form einer Krise oder einer Feuerprobe erfahren. Diejenigen von uns, die durch eher freiwillige, ritualisierte Formen der Initiation gegangen sind, sagen einhellig: dieser Prozess ist kein Spaß [auch wenn manchmal durchaus Spaß dabei sein darf, Anm. d. Ü.]. Er ist nicht bequem und es ist nichts vorhersagbar. Es kann auch sein, dass du glaubst, verrückt zu werden. Es kann sein, dass du irgendwann nicht mehr weißt, wer du bist. Du kannst nicht einfach auswählen, welche Teile deiner Persönlichkeit sterben. Du kannst es nicht einmal voraussehen. Eines der dominantesten Gefühle ist die Unwissenheit: Du weißt nicht, wohin du gehen wirst, aber es gibt kein Zurück. Und es gibt kein Wissen, wie lange die Transformation dauern wird. Es kann helfen, sich daran zu erinnern, dass die initiatorische Verpuppungsphase eine heilige Zeit ist, abgesetzt vom alltäglichen Leben. Dass sie ihre eigenen Erfordernisse und ihre eigene Logik hat. Dass du sie nicht beschleunigen kannst, dass du dich ihr nur ergeben kannst. Dass sie schmerzhaft sein kann, aber am Ende auch tief heilsam.
Stell dir vor, was passiert, wenn sich eine ganze Gesellschaft mitten in einer kritischen Initiation befindet. Allein, du musst es dir gar nicht vorstellen: es passiert bereits, jedenfalls beginnt es gerade. Es sieht aus wie Chaos, wie eine Kernschmelze. Wir befinden uns in einem Moment der kollektiven globalen Krise und einer Unsicherheit, wie sie im kollektiven Gedächtnis der Menschheit kaum je vorgekommen ist. Die Maschinerie der Weltwirtschaft - Quelle unserer finanziellen Bedürfnisse und zugleich ein System, das von Krankheit, Scheidung, Verbrechen und Tragödien profitiert - sieht sich einer dramatischen Verlangsamung konfrontiert. Wir alle spüren den abrupten Stillstand nicht-essentieller Aktivitäten. Hier gibt es Chancen, wenn wir sie in Anspruch nehmen.
Dies ist eine heilige Zeit.
Aber, anders als bei einem traditionellen Übergangsritual, gibt es hier keine Priester*innen oder Älteste mit einem erfahrungsbasierten Wissen, wie der rituelle Rahmen gehalten werden kann. Priester*innen oder Älteste, die die sichtbaren und unsichtbaren Vorgänge im Blick halten. Stattdessen finden zeitgleich Millionen persönlicher Visionssuchen [quests] innerhalb einer gigantischen initiatorischen Verpuppung statt. Und dennoch, schau einmal genau hin: Mitten in der Matsche der sich auflösenden Raupe kannst Du möglicherweise beobachten, wie die ersten Imago-Zellen erscheinen. Grüppchen von Menschen, die sich auf ein Ziel ausrichten, welches sie vielleicht selbst noch nicht ganz verstehen. Menschen, die ihre Botschaft aussenden und sagen: Lasst uns etwas anderes versuchen.
Dies ist eine Chance, die Fesseln zu lockern, die uns auf die alten und bekannten Wege festgelegt haben. Diese Wege haben die längste Zeit gedient und uns dahin gebracht, wo wir jetzt stehen, zum Guten wie zum Schlechten. Sie können uns aber wohl kaum viel weiter tragen. Was wäre, wenn wir stattdessen gefragt sind, uns mit unserem Gefühl vorwärts zu bewegen, vom Herzen und ohne den Vorteil der Sicherheit, die uns - in hoher Dosierung - doch so vergiftet hat? Niemand kennt die Antworten, jetzt nicht und auch später nicht. Aber heute ist die Zeit, in welcher die Fragen wertvoller sein können als die Antworten.
Was, wenn wir diese Zeit mit heiligem Respekt ehren?
Was, wenn wir uns die Zeit nehmen um die Begrenztheit unserer Mutter Erde wahrzunehmen?
Was ist wirklich wichtig?
Wie können wir die bittere Medizin dieses Augenblicks tief in unsere Zellen aufnehmen und uns an den möglichen Chancen orientieren?
Wie können wir mit der Unterstützung dessen, was wir noch nicht wahrgenommen haben, als Hebammen all jenem dienen, das hier stirbt und all jenem, das hier geboren wird?
Lasst uns mit dem Widerhall dieser Fragen l a n g s a m e r werden und hinhören. Auf das Echo des Ungesehenen, auf das Flüstern aus der Tiefe unserer Seelen und auf den Kern des Mysteriums, welches - in Zeiten der Krise nicht weniger als sonst - uns alle umarmt.
https://www.heartwardsanctuary.org/post/what-if-the-virus-is-the-medicine

What if the Virus is the Medicine?
By Jonathan Hadas Edwards & Julia Hartsell
The emerging pandemic is already a watershed of the early 21st century: things won’t ever be the same. Yet for all that the havoc that the virus is wreaking, directly and indirectly, it may also be part of the bitter medicine the global body needs.
How could adding another crisis to an already crisis-ridden planet possibly be medicinal?
Before we explore that question, we want to be clear: our intent is not to downplay the severity or minimize the importance of lives lost to this disease. Behind the mortality figures lie very real pain and grief, and these numbers, often discussed so casually, are personal, representing the potential loss of our parents, elders, teachers, dance companions, grandmothers or immune-compromised friends. Already, our hearts are breaking for the physical distance with our aging parents until we know if we’re infected. There’s not only a risk of losing beloveds in this time, but having to do so from afar. Our hearts are breaking for those who may die or suffer alone, without the touch of their loved ones. We honor death as a sacred passage, but we do not minimize death, suffering or sickness in the slightest. We pray that each one who transitions from this virus (as from the many other deadly diseases, accidents, overdoses, murders, suicides, mass shootings, and on and on) be met with on the other side by unexpected blessing, connection, peace.
Neither are the economic implications to be taken lightly. Many in this country have already seen massive impact, and the recession has only begun. As always, those closest to the edge will be hit hardest. For some, a month sequestered in beauty could be a vacation. Others have a few months before financial panic sets in. And for others living paycheck to paycheck or gig to gig, there is a great immediacy of struggle. The economic ‘side effects’ of this coronavirus could be catastrophic.
And yet.
For many in our world, the pre-coronavirus status quo was already catastrophic. Many are facing an imminent end to their world--indeed, for many species and many peoples, the world has already ended. We are in the midst of a crisis of unprecedented magnitude: the choice for humanity is change or die. No one said change would be easy. (Neither is dying.) And incremental change is not enough. It will take radical change to shift our current, calamitous trajectory away from massive environmental devastation, famine, energy crises, war & refugee crises, increasingly authoritarian regimes and escalating inequalities.
The world we know is dying. What is unsustainable cannot persist, by definition, and we are starting to see this play out.
What hope is there, then? There is the hope that breakdown will become, or coexist with, breakthrough. There is the hope that what is dying is the caterpillar of immature humanity in order that the metamorphosis yields a stunning emergence. That whatever survives this collective initiation process will be truer, more heart-connected, resilient and generative.
We are entering the chrysalis. There’s no instruction manual for what happens next. But we can learn some things from observing nature (thank you Megan Toben for some of this biological info). For one thing, the chrysalis stage is preceded by a feeding frenzy in which the caterpillar massively overconsumes (sound familiar? We’ve been there for decades). Then its tissues melt into a virtually undifferentiated goo. What remain separate are so-called imaginal cells, which link together and become the template from which the goo reorganizes itself into a butterfly. Does the caterpillar overconsume strategically, or out of blind instinct? Does it know what’s coming and trust in the process, or does it feel like it’s dying? We don’t know. It’s natural to resist radical, painful change. But ultimately there’s little choice but to surrender to it. We can practice welcoming the circumstances that force us away from dysfunctional old patterns, be they economic or personal. We have that opportunity now.
Let’s return to a crucial word, initiation. On an individual level, initiations are those processes or rituals by which one reaches a new state of being and corresponding social status: from girl to woman, from layperson to clergy, and so on. Initiations can be deliberate or spontaneous, as in the case of the archetypal shamanic initiation, which comes by way of a healing crisis. To paraphrase Michael Meade, initiations are events that pull us deeper into life than we would otherwise go. They vary widely from culture to culture and individual to individual, but two characteristics they share are intensity and transformation. They bring us face to face with life and with death; they always involve an element of dying or shedding so that the new can be born.
Most all of us have undergone initiations of one sort of another, from the death of a parent to the birth of a child. Many have experienced initiation in the form of a crisis or trial by fire. Those of us who have gone through more deliberate, ritualized forms of initiation can state unequivocally: the process is not fun, comfortable or predictable. You may well feel like you’re going nuts. You may not know who you are anymore. You don’t get to choose which parts of you die, or even to know ahead of time. One of the overriding feelings is of uncertainty: you don’t know where you’re going, only that there’s no going back. And there’s no way of knowing how long the transformation will take. It can help to remember that the initiatory chrysalis phase is a sacred time, set apart from normal life.That it has its own demands and its own logic. That it cannot be rushed, only surrendered to. That it may be painful, but also, ultimately, healing.
Imagine what happens when an entire society finds itself in the midst of a critical initiation. Except you don’t have to imagine: it’s already happening, or starting to. It looks like chaos, a meltdown. We’re in a moment of collective, global-level crisis and uncertainty that has little precedent in living memory. The economic machine--the source of our financial needs and also a system that profits from disease, divorce, crime and tragedy--is faced with a dramatic slow-down. We are all facing the cessation of non-essential activities. There is opportunity here, if we claim it.
This is a sacred time.
However, unlike a traditional rite of passage ceremony, there’s no priest or elder with wisdom born of experience holding the ritual container, tracking everything seen and unseen. Instead, all at once there are millions of personal quests inside one enormous initiatory chrysalis. And yet, look closely: amid the goo, you may start to notice imaginal cells appearing. Pockets of people who are aligned with something they may not fully understand, in receipt of a vision or pieces of one, beaming out their signal to say: let’s try something different.
This is an opportunity to loosen our grip on old and familiar ways. Those ways worked for as long as they did, and they got us here, for better and for worse. They seem unlikely to carry us much further. What if we’re instead being asked to feel our way forward, from the heart, without benefit of certainty--which, when concentrated, quickly becomes toxic? No one has all the answers in this or any other time. Right now the questions may be more valuable.
What if we honor this time with sacred respect?
What if we take the time to listen for the boundaries and limits of our Earth mother?
What is truly important?
How can we receive the bitter medicine of the moment deep into our cells and let it align us with latent possibility?
How can we, with the support of the unseen, serve as midwives to all that is dying here and all that is being born?
With these questions resounding, let us s l o w d o w n and listen. For echo back from the unseen, for whisperings from the depths of our souls and from the heart of the mystery that--no less so in times of crisis--embraces us all.
https://www.heartwardsanctuary.org/post/what-if-the-virus-is-the-medicine
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